Ostern

Der Nachbar bringt Arbeit: vier große Meeresforellen und zwei Papageientaucher. Er hat von Fritzis Vorhaben gehört, die Familie an Ostern um einen Tisch zu versammeln, immerhin zehn Personen, falls die Schwiegertochter und ihre Nichte mit Kindern und Enkeln sich tatsächlich blicken lassen. Auf den Enkel und die Tochter ist wohl Verlass. Für isländische Verhältnisse eine lächerlich kleine Sippe. Trotzdem viel Arbeit. Eigentlich hat sie sich für Hangikjöt,geräuchertes Lamm, entschieden, weil es nicht so schnell verdirbt. Nun also Forellen und Papageientaucher. Ihr Fleisch, gebraten serviert, hat etwas von Kalbsleber.

Beim Ausnehmen der Fische steckt sie sich die Pfeife an, die Jón gehörte, ein Mitbringsel von seiner einzigen Auslandsreise nach Dänemark in den Sechzigern. Es war sein Wunsch,damit beerdigt zu werden, doch sein Tod vor zehn Jahren kam für Fritzi so überraschend, dass sie zu spät, nämlich erst am frisch zugeschaufelten Grab, daran gedacht hat.Aus Verlegenheit über diesen Fauxpas hat sie das Rauchen angefangen.

Fritzi hat lange nicht für so viele Gäste gekocht, die Planung bereitet ihr Mühe. Sie schält einen Berg Kartoffeln, melkt die freundlichere der beiden übellaunigen Kühe, die sie von der einst fünfzehn Tiere umfassenden Herde behalten hat, und verwendet die Milch, solange sie noch warm ist, für den süßen Brei.

Ihr erstes Zusammentreffen mit einer Kuh, gleich nach ihrer ersten Nacht auf Bjarg: Wohl weiß sie, wo das Tier seine Vorräte verwahrt, aber nicht, wie sie es dazu bringen soll, sich davon zu trennen, und zwar möglichst gezielt in den Blecheimer zu ihren Füßen. Junge Frauen mit Erfahrung in der Landwirtschaft waren Wochen zuvor per Zeitungsannonce in den Lübecker Nachrichten für die Arbeit auf isländischen Farmen gesucht worden. Natürlich hat sie gelogen. Wie die meisten Bewerberinnen. Sie hatten alle kurz nach dem Krieg nur ein Ziel vor Augen: weg, nichts wie weg aus Deutschland. Weg aus den Ruinen, weg vom Hunger, weg von der Schuld. Egal, wohin. Es wurden ja regulär keine Reisepässe für Deutsche ausgestellt, außer auf schriftliche Einladung eines ausländischen Arbeitgebers.Also gab sie sich als Bauerntochter aus, und niemand machte sich die Mühe, ihre Angaben zu überprüfen. Bis zu diesem Tag. Sie berührt die Kuh an der Flanke, dann die weiche Haut am Euter. Streicht mit dem Zeigefinger über die hervortretenden Adern. Ein spöttischer Blick der alten Halldora.

Fritzi hatte auf dem Schiff genügend Zeit, zu grübeln, wie es sein würde, sich auf einer isolierten Insel im Nordmeer als Landmagd zu verdingen. Die Rückständigkeit, das unwirtliche Klima, die strengen Gerüche an Mensch und Vieh – alles wie erwartet oder schlimmer: Dass die Notdurft in der Jaucherinne im Stall zu verrichten sein würde, hat sie sich nicht vorher ausmalen können, ebenso wenig die zahllosen fetten Fliegen in ihrer Kammer, teils tot, teils unermüdlich umherschwirrend. Das Summen. Der Gestank. Sie kommt damit zurecht. Jede neue Härte zählt als Unterpfand für den Beginn ihres zweiten Lebens, welches das erste nicht nur ersetzen, sondern auch die Erinnerungen daran auslöschen soll. Vergessen scheint möglich. Sie mag verdreckt sein, aber es hat eine Reinigung stattgefunden.

Als Fritzi den Eimer ins Haus schleppt, randvoll mit Milch, verharrt sie kurz, lässt den Wind ihre Zöpfe zerzausen und hält die Zukunft für ein Kinderspiel.

Er trifft überpünktlich und eine Spur zu geschniegelt in Livs Wohnung ein, verströmt Pfefferminzatem und lärmenden Optimismus. »Ich war gestern extra noch beim Friseur. Gut, oder? Ich will mich schließlich vor deinen Leuten nicht blamieren. Glaub es oder nicht, ich freue mich auf das Essen. Ich kann es kaum erwarten, deinen Großvater endlich kennenzulernen.«

Sein Enthusiasmus wirkt redlich, was Liv zweifeln lässt, ob es eine gute Entscheidung war, Max zum Familientreffen einzuladen. Was, wenn er nun denkt, sie sei bereit, nach zwei Jahren zwangloser Beziehung den nächsten Schritt zu wagen?Auch Männer können Torschlusspanik bekommen. Er ist gerade vierzig geworden, ein gefährliches Alter.

»Versprich dir nicht zu viel davon. Tönges ist nicht gerade die Freundlichkeit in Person.«

»Demnach kommst du nach ihm. Jetzt schau halt mal.« Er präsentiert seinen frisch gestutzten Hinterkopf.

Sie fährt ihm über die sehr kurzen, feinen Haare, die sich feucht anfühlen. »Du solltest draußen lieber eine Mütze tragen. Es ist nicht gerade warm heute.«

»So fürsorglich neuerdings?«, fragt er mit einem gemütvollen Lächeln, das sein Gesicht auf kindliche Weise weich erscheinen lässt.

Liv beißt sich auf die Unterlippe. Schon wieder ein falsches Signal von ihr.

Die Quittung kommt schneller als erwartet: Während der Fahrt nimmt Max in Livs Gegenwart zum ersten Mal Wörter wie Liebe und Glück in den Mund. Ein Tabubruch. So lange sind sie bestens ohne diesen ganzen Mist ausgekommen. Sicher, er hat von Anfang an mehr Gefühle in die Sache investiert als sie, gerade deshalb hat sie geglaubt, dass er den Status quo niemals gefährden würde, indem er anfängt, sie unter Druck zu setzen, und ihr sein Herz ausschüttet. Im Grunde ist Max nicht ihr Typ, zu hellhäutig, zu melancholisch. Ein Unternehmensberater, selbstständig seit seiner Kündigung bei einer renommierten Consulting-Firma. Ursprünglich wollte er sie als Klientin gewinnen, aber sobald er merkte, dass ihr Nachholbedarf auf anderem Gebiet weitaus größer war, schwenkte er um. Gutes Timing: Liv war seit einer Ewigkeit mit niemandem mehr ausgegangen, ungezählte Nächte gieriger Einsamkeit hatten an ihrem Ego genagt, sie war bereit für eine Affäre – nicht mehr und nicht weniger – und dabei zu passiv oder wegen der Scheidung zu desillusioniert, sich selbst auf die Suche zu begeben. Es gefiel ihr, ihm zugefallen.

Jetzt im Auto zieht er plötzlich Bilanz: »Seit wir uns kennen, bin ich ein glücklicherer Mensch geworden.«

Eine Bemerkung, die nach Bestätigung verlangt. Liv pariert ihm zuliebe, obgleich sie selbst eine andere Umschreibung gewählt hätte. Ein wenig ausgeglichener vielleicht. Zufriedener. Es ist schnell eine Zwanglosigkeit zwischen ihnen entstanden,und Liv empfindet die gemeinsam verbrachte Zeit als überaus angenehm. Sogar der Sex ist in gewisser Weise angenehm, befriedigend, ohne sie aufzuwühlen. Zufriedenheit wird unterschätzt, da ist sie sich sicher, Glück hingegen überbewertet. Es gilt ja heutzutage beinahe als armselig, die Frage nach dem Befinden nicht mit einem Superlativ zu beantworten.Aber sie will nicht spitzfindig sein. Letztlich ist alles eine Definitionsfrage.

Immerhin hat sie dank Max nun die Möglichkeit, das kurzfristig angesetzte Mittagessen mit der Familie in vorzeigbarer Begleitung zu absolvieren. Egal, was er sich darauf einbildet. Eigentlich müsste er inzwischen begriffen haben, wie sehr sie Verbindlichkeiten scheut. Liv hält die Dinge gern in der Schwebe. Was nicht heißt, dass sie überhaupt nicht an die große Liebe glaubt, aber in etwa so wie orthodoxe Juden an die Ankunft des Messias: Unwahrscheinlich, dass es innerhalb ihrer kurzen Lebenszeit dazu kommt, aber falls doch, ist sie bereit.Also macht man es sich in der Diaspora gemütlich, so gut es geht, und hat den fertig gepackten Koffer für den Aufbruch ins Gelobte Land jederzeit griffbereit.

Auf der Autobahn nach Norden ist nichts los, trotz des bevorstehenden Feiertags. Schwarze Wolkenberge am Horizont, Sonne und Schauer im Wechsel.Atlantische Tiefausläufer. Nach der Wettervorhersage vom Vorabend hat Liv sich mehr versprochen. Ein Hoch über Polen und Ungarn sollte warme Luft aus dem Süden anziehen, aber die ist wohl wieder nur bis München gekommen. Typisch. Wenn die »Tagesschau« ihnen wenigstens die immer gleichen Biergartenbilder ersparen würde. Besonnte Bayern, während alle anderen noch frieren.Alle Jahre wieder.

Sie durchfahren die Holsteinische Schweiz, hügeliges Weideland. Vom Frühling ist noch nicht viel zu sehen, die Bäume sind kahl, das Gras blass, hier und da blühen erste Forsythien.

Liv freut sich auf die Insel, sie besitzt ein Ferienhaus im Nordosten, eine Reetdachkate. Seit sie kaum noch surfen geht, ist sie selten auf Fehmarn. Nach dem Essen am Abend bleiben ihnen noch der Ostersonntag und der Montag als Kurzurlaub.

»Wie ist deine Familie denn so?« Max' Versuch, beiläufig zu klingen, überzeugt nicht ganz.

Liv zuckt mit den Schultern. »Befremdlich.« »Was heißt das?«

»Es befremdet mich immer wieder, zu sehen, wie wenig wir gemeinsam haben. Ich kenne sonst niemanden, mit dem ich mir so wenig zu sagen habe. Sie sind gehässig, ignorant und erzählen unglaublich langweilige Geschichten aus ihrem völlig ereignislosen Alltag. Spätestens nach drei Minuten würde ich mich lieber für ein Minenräumkommando melden, als weiter zuzuhören«, redet Liv sich in Rage, und als sie bemerkt, wie boshaft und unreif sie klingt, fügt sie hinzu: »Das einzig Beruhigende ist, dass sie über mich dasselbe denken.«

»Oh.Ach so.« Max, der am Steuer sitzt,beugt sich zur Seite und kramt eine Rolle Pfefferminzdrops aus dem Handschuhfach, die Fahrbahn im Blick. »Das hättest du mir ruhig vorhersagen können.«

»Vorher hast du nicht gefragt.« Ohne Erfolg versucht sie, das Unbehagen abzuschütteln, das sie bei dem Gedanken an die Familie jedes Mal erfasst. Irgendetwas ist faul bei den Engels, sie sind unbekömmlich wie ein dilettantisch zusammengestellter Cocktail. Die Abneigung der Verwandten untereinander, teils unterschwellig, teils offen gezeigt, staut sich bei jeder Gelegenheit zu einem gewaltigen Druck auf. Die Explosion bleibt dann oft aus, was das Aufeinandertreffen beim nächsten Mal nicht einfacher macht. Familie als Oase der Geborgenheit? Das hat sie schon als Kind für einen schlechten Witz gehalten. Man muss immer auf der Hut sein. Und besser keine Schwäche zeigen.

»Aber deinen Großvater, den magst du doch?«, fragt Max in ihre Gedanken hinein und steckt sich zwei Bonbons auf einmal in den Mund.

»Sehr.«

»Und deine Eltern?« »Sind die Schlimmsten.«

Liv verstummt, erschrocken über die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage, und hofft inständig, dass Max nicht näher darauf eingeht. Er wirkt bestürzt, dabei neugierig – wer wäre das nicht? –, lässt das Thema aber fallen und fragt nach ihrer Arbeit. Als ihre Antworten einsilbig bleiben, schiebt er ein Album von Tom Waits in den CD-Player und hält den Mund, ohne dabei beleidigt zu wirken.Angenehm, wie er ist.

Ein weißer Strand im Süden der Ostseeinsel. Sie sind viel zu früh, Zeit für einen Spaziergang am Sund, im Hintergrund die Brücke, die Fehmarn mit dem Festland verbindet, von den Einheimischen als Kleiderbügel verspottet. Es ist kalt, zehn Grad höchstens, aber sonnig, ein strammer Wind aus Nordost hat die Wolken vertrieben. Meeresblau mit Schaumkronen. Sie schlendern Hand in Hand und genießen die Aussicht. Liv denkt wieder an die Mütze, die Max draußen besser tragen sollte. Er erkältet sich leicht.

»Erzählst du mir von deinem Großvater?«

Liv überlegt. Was gibt es über Tönges Engel zu sagen? »Er ist ein Macho, schätze ich, und ein typischer Eigenbrötler. Hat sich nie viel aus der Familie gemacht. Nach dem Krieg wurde er Sprengmeister, entschärfte zunächst Blindgänger, gründete 1965 unsere Firma und spezialisierte sich auf Bauwerkssprengungen. Das war genau sein Ding. Ich habe lange geglaubt, er würde sich nie zur Ruhe setzen. In letzter Zeit hat er sich ziemlich zurückgezogen.«

»Das muss hart sein«, sagt Max und lässt ihre Hand los, um einen Stein aufzuheben und mit weitem Schwung ins Meer zu schleudern.

»Was?«

Sie betrachten beide die kniehohen Wellen, wie sie brechen und zum flachen Strand gleichmäßig auslaufen.

»Zum alten Eisen zu gehören. Die Welt dreht sich weiter, und man verpasst den Anschluss. Bleibt also nur der Rückzug ins Private. Und wenn man sich dafür nie wirklich interessiert hat, ist es sicher hart.«

Max hört sich an wie jemand, der weiß, wovon er spricht. Liv hat schon länger den Verdacht, dass sein letzter Arbeitgeber ihn mehr oder weniger vor die Tür gesetzt hat.Als Selbstständiger ist er nicht gerade ausgebucht, soviel sie mitbekommen hat.Allmählich scheint es auch finanziell eng zu werden.

Sie drückt seinen Arm. »Du bist ein mitfühlender Mensch, weißt du das?«

»Soll das ein Kompliment sein?«

»Was denn sonst?«

»Eine Mitleidsbekundung.«

Sie schüttelt den Kopf. Über sich selbst, nicht als Antwort.

Er hat recht, für Mitleid ist er zu schade. Und durchfüttern wird sie ihn auf keinen Fall.

Im Lotsenhus, einem Lokal am Fischereihafen von Burgstaaken, treffen Liv und Max als Letzte ein, die Wangen rot, die Haare vom Wind durchwühlt. Sie stellt ihm zuerst ihre Großeltern vor. Dann die Eltern, Tante Edith und Onkel Elmar, ihren CousinFlorian, frisch geschieden und mit neuer Freundin, einer so unscheinbaren Frau, dass der erste Eindruck nicht mal für ein Vorurteil reicht, und zuletzt die grässliche Cousine Tessa,dicker denn je, nebst Ehemann und zwei völlig verzogenen, bereits arg pummeligen Kleinkindern, deren Namen Liv für nicht erwähnenswert hält, weil sie ohnehin nicht darauf hören. Max gibt jedem die Hand, was sie zwingt, das Gleiche zu tun. Livs Mutter Maiken fordert mit unmissverständlicher Geste Wangenküsse ein.Der Duft ihres Parfüms bleibt sofort an jedem haften. Sie benutzt es, solange Liv denken kann. Begrüßungsfloskeln: Junges Glück vergisst die Zeit. Wenigstens habt ihr Sonne mitgebracht. Wenn Engel reisen.Bla bla bla ...

Max und sie nehmen nebeneinander Platz. Liv kennt das Restaurant von der Goldenen Hochzeit ihrer Großeltern vor einigen Jahren. Exzellente Fischgerichte, die Atmosphäre gediegen-maritim mit dunklem Inventar unter mächtigen Dachbalken.AmAbend ist es schwer, überhaupt einen Tisch zu bekommen. Soweit Liv informiert ist, haben Henny und Tönges Engel sich hier bei einer Tanzveranstaltung kennengelernt.Im Urlaub. Ein symbolträchtiger Ort also für ein Osteressen, das ebenso gut im Haus der Eheleute in Lübeck hätte stattfinden können. Oder überhaupt nicht, schließlich liegt niemandem wirklich daran.

Eine hübsche Bedienung verteilt Speisekarten. Sie ist keine zwanzig, weißblond und braungebrannt wie eine Surferin, Florian bestaunt sie mit halb geöffnetem Mund. Alle anderen Blicke gelten Max. Er bleibt gelassen.Auch als die Fragerei losgeht. Nach seinem Beruf: Betriebswirt, seiner Herkunft: Hamburg, zur Zeit in Travemünde ansässig,und seinem Familienstand: ledig, keine Kinder.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?« Die Frage kommt von Florian, der die Augen nicht von der inzwischen dem Zapfhahn zugeteilten Kellnerin lassen kann.

»Beim Joggen«, sagt Max.

»Du joggst?«, fragt Maiken Engel in gewohnt spöttischem Tonfall. Seit ihr in Livs rebellischer Phase ein Familientherapeut dazu riet, in Konfliktsituationen Souveränität zu demonstrieren, sich also niemals aus der Reserve locken zu lassen, geht bei ihr keine Kommunikation ohne Spott über die Bühne. Liv ist sich nicht sicher, ob es das war, was der Therapeut damals bezwecken wollte.

»Gelegentlich. Und wenn, dann jogge ich nicht, ich renne«, sagt sie.

»Vor dem Leben davon?«, fragt Tessa.

So schlagfertig hatte Liv die Cousine nicht in Erinnerung. Sie nickt ihr anerkennend zu. »Du hast wohl neuerdings den Durchblick.«

Minutenlanges Geplänkel. Tönges Engel thront unbeteiligt an der Stirnseite der langen Tafel und ergreift erst das Wort, als ein Mittfünfziger mit Oberlippenbart, dem Gehabe nach der Inhaber des Hauses, die Bestellungen entgegennehmen will. In gewohnter Manier entscheidet er für alle: »Wir bekommen die Fischplatte für zehn Personen mit Bratkartoffeln und zwei Mal den Kinderteller.«

Tessa zieht eine beleidigte Grimasse, vermutlich hätte sie Pommes bevorzugt. Liv und Max grinsen sich an.

»Eine gute Wahl«, schleimt der Wirt. »Was möchten Sie dazu trinken?«

Das Familienoberhaupt, mit seinen achtundsiebzig Jahren immer noch dominant wie ein Halbstarker, ordert Riesling und Mineralwasser. Onkel Elmar wagt einzuwenden, dass er lieber ein Bier hätte, Liv schließt sich an. Tessas Töchter verlangen nach Cola.

»Cola gibt es nicht. Ihr seht jetzt schon aus wie eure Mutter«, sagt Tönges, worauf Tessa unter dem Protestgeschrei ihrer Sprösslinge aufspringt und zu den Waschräumen stampft.

Die junge Kellnerin kommt, um die Karten wieder einzusammeln. Max lacht leise. Liv unterdrückt den Impuls, ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. Der Gedanke an das bevorstehende Essen ermüdet sie plötzlich. Die schweren Speisen, die Kinder, die Sticheleien. Sie hat keine Lust darauf. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Einladung nicht anzunehmen.Aber ihr Großvater hatte es am Telefon so dringend gemacht. Irgendetwas wird er ihnen zu sagen haben.

Wie gewöhnlich lässt er sich Zeit, wartet ab, bis die Gläser gefüllt sind und die adipösen Familienmitglieder den ersten Hunger mit Brot gestillt haben. Dann erhöht er die Spannung, indem er zunächst nur verkündet, etwas verkünden zu wollen. Eine Neuigkeit. Im Anschluss an die Nachspeise. Berufskrankheit: Tönges Engel zündet nie einen Sprengsatz ohne Countdown.

Das Essen wird serviert, fünf Sorten gebratener Fisch, Krabben, grüner Salat und Bratkartoffeln. Sie essen schnell, auch die Dünnen, eine Familie von Ungeduldigen. Max kommt kaum mit. Es scheint ihn zu amüsieren. Während die Unterhaltung um entfernte Angehörige kreist, sucht Liv Blickkontakt mit ihrem Großvater, lauert auf ein Zeichen der Zusammengehörigkeit, etwas Verschwörerisches, ein Zwinkern oder weniger, das ihrem Sonderstatus als seine Nachfolgerin und Lieblingsverwandte Rechnung trüge. Doch der Alte widmet sich dem Bratfisch und tut ihr nicht den Gefallen. Dass er sie nicht direkt am Telefon eingeweiht hat, kränkt Liv. So distanziert war er ihr gegenüber noch nie.

Warum dieses Treffen? Vermutlich geht es ums Erbe. Oder um exzentrische Beerdigungswünsche. Möglicherweise will ihr Großvater sein komplettes Vermögen für ein Weltraumbegräbnis verpulvern. Nach einem langen Leben unter dem Diktat der Sparsamkeit wäre ihm das durchaus zuzutrauen.

»Wieso ist eigentlich dein Sohn heute nicht dabei?«, flüstert Max ihr ins Ohr.

»Wer?«

»Aaron. Der gehört doch dazu.«

Liv winkt ab. »Der hat schon die Großeltern väterlicherseits und die Eltern seiner Stiefmutter am Hals. Da braucht er nicht auch noch in unserer verkorksten Familie mitzumischen.«

Der Junge.Das Versprechen, das sie ihm im Februar gegeben hat, ist ihr durchaus präsent: Warte bis Ostern.Ab und zu hat sie sich gefragt, wie es wäre, mit ihrem Sohn zusammenzuwohnen.AberAaron hat seit jener Nacht nichts mehr von sich hören lassen. Wie zu erwarten war.

Beim Nachtisch nörgelt Tönges Engel an LivsArbeit herum. Thema: die bevorstehende Sprengung der ehemaligen Metallhüttenwerke in Lübeck-Herrenwyk.

»Ich verstehe nicht, warum die Vorbereitungen so lange dauern.«

»Fehlende Genehmigungen. Eine Bahnlinie, der Fluss und eine Autobahn müssen gesperrt werden, die Verantwortlichen tun sich schwer. Du weißt doch, wie so was läuft.«

Er stochert missmutig in der roten Grütze auf seinem Teller. »Welche Zünder verwendest du?«

»Gemischt.Nonel und elektrische«, sagt Liv, und als sie seine Skepsis sieht, fügt sie in vorauseilendem Gehorsam hinzu: »Ich kenne deine Bedenken wegen der nicht elektrischen Zünder, aber ich verwende beide Systeme, um die gewünschte Zünddauer über Intervallschaltungen von exakt sechs Sekunden zu erreichen.«

»Du wirst schon wissen, was du tust. Es ist dein Laden.«

»Meinetwegen kann ich dich gern mehr in die Planung einbinden«, sagt Liv und hofft, dass er nicht darauf eingehen möge.

»Ach, macht euren Scheiß bloß allein.« Eine wegwerfende Handbewegung und das Thema hat sich für ihn erledigt, Liv ist gleichermaßen erleichtert und enttäuscht.

Der Rest der Familie hat ihnen aufmerksam zugehört. Die Stimmung am Tisch ist angespannt. Tönges löffelt Grütze mit gerunzelter Stirn, als brüte er übe reiner Rechenaufgabe. Das ist untypisch für ihn, normalerweise würde er dem von ihm inszenierten Höhepunkt mit sichtlicher Vorfreude entgegen fiebern und, um warm zu werden, schon mal seinen Sohn herunterputzen. Etwas stimmt nicht mit ihm. Er wird alt.

»Denkst du nicht, es ist allmählich Zeit,uns mitzuteilen, warum wir heute hier sind?«, bricht es aus Maiken heraus.

Keine Antwort.

Liv registriert, wie ihre Großmutter auf dem Stuhl hin und her rutscht, auch sie scheinbar ganz aufs Essen konzentriert. Henny, die Gepflegte, kaum jemals aus der Ruhe zu bringen, zeigt deutliche Anzeichen von Stress. Ihrem rundlichen Gesicht fehlt das leichte Lächeln, welches sie, wie viele Frauen ihrer Generation, als charmante Dauerentschuldigung für die Flegelhaftigkeit ihres Mannes einzusetzen versteht.

Ein tiefes Unbehagen erfasst Liv. Sie braucht eine Weile, um zu begreifen, dass es auf Angst beruht. Verlustangst.Als Vorschulmädchen wurde sie oft von Verlustängsten heimgesucht. Keine fünf Minuten konnten ihre Eltern sie in der Wohnung zurücklassen, so hat sie geschrien. Im ganzen Viertel sei es zu hören gewesen, hat man ihr später erzählt. Sie erinnert sich: Das Vertrauen fehlte.Egal, wie oft sie ihr versicherten, sie seien bald zurück, Liv hat es nicht geglaubt. So wurde sie zur Ausreißerin. Eine Gegenmaßnahme. Sobald sie allein bleiben sollte, ergriff sie ihrerseits die Flucht -machte den Eltern damit einen Strich durch die Rechnung. Wenn schon auf sich gestellt, dann wenigstens selbstbestimmt. Sie hat lange nicht mehr daran gedacht, doch jetzt, da dasAngstgefühl unerwartet zurückgekehrt ist, erkennt sie es wieder und weiß es nicht zu deuten. Wahrscheinlich hängt es mit jener Neuigkeit zusammen, die Tönges und Henny auf der Seele liegt. Liv wünschte, sie würden sie für sich behalten.

»Ich glaube, jeder ist satt, also bringen wir es hinter uns«, sagt sie.

Der Tisch ist eingedeckt. Fritzi begutachtet ihr Werk und nickt, es gibt nichts mehr zu korrigieren. Jetzt heißt es warten. Sie ist erleichtert. Der Móri, der Braune, hat kein Glas zerschlagen, nur ein wenig mit dem Besteck gespielt wie ein gänzlich harmloses Hausgespenst. Schön ist es geworden. Das Porzellan ein Geschenk von Großmutter Halldöra, denn Fritzi ist ja ohne Aussteuer ins Land gekommen. Ein Sonnenstrahl kämpft sich durch das Grau des Abends, bringt Geschirr und Kristall zum Funkeln, und für einen Augenblick hat sie eine Vorstellung von der Herrlichkeit des häuslichen Glücks, die Einar Kristján, ihr Schwiegervater, in der Rede zu ihrer Hochzeit beschworen hat: die erhabene Pflicht der Frau, ihre Mütterlichkeit in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, die Familie zu einen und ihr Heim, sei es auch noch so bescheiden, in einen Hort der Wärme, der Ruhe und des Friedens zu verwandeln, auf dass jeder Mann die Empfindung bekäme, zu großen Taten bereit zu sein. Dann wechselt das Licht, und die fein gedeckte Tafel ist wieder eine fein gedeckte Tafel, nicht mehr. Wie damals hat sie den Eindruck, verschaukelt worden zu sein.

Sie stellt sich ans Fenster, die Auffahrt im Blick. Vorfrühling in Island. Die Zeit zwischen Heu und Gras: Die Heuvorräte sind verbraucht, und frisches Grün lässt auf sich warten, die Weiden gelblich braun, die Schafe ausgemergelt vom langen Winter. Die Tage sind kalt, aber lang, mit viel Helligkeit, wenn die Witterung es zulässt. Weiter weg ist der Himmel blau, Fritzi sieht, dass im Süden die Sonne scheint, ebenso im Norden und Westen. Nur über Bjarg drängen sich die Wolken wie Lämmer im Pferch.

Die Standuhr schlägt sechs, dann sieben. Essenszeit. Es schlägt acht - keiner kommt.Auch nicht um halb neun. Bevor das Geläut die nächste volle Stunde anzeigen kann, stoppt Fritzi das Pendel. Gab es vielleicht am Vormittag einen Anruf, während sie bei den Kühen im Stall war? Hat sie vorhin nicht das Telefon gehört, als sie Stunde um Stunde am Herd stand, zu beschäftigt, um auf das Klingeln zu achten? Und wenn schon, es ist eine Frechheit, sie warten zu lassen. Ein Jammer um das gute Essen.

Ihre Verdienste um die Einheit der Familie sind als überaus bescheiden anzusehen, das ist ihr nicht erst seit heute klar. Zu ihrem Ärger über die Verschwendung bester Nahrungsmittel für mindestens zehn Personen gesellt sich eine Portion Weinerlichkeit und nach und nach Erleichterung. Es ist ihr ja bei ihrer Einladung nicht zuerst darum gegangen, die Sippe satt zu bekommen. Nein, sie hat kein geringeres Ziel verfolgt, als die Tochter, die Enkel und Urenkel endlich wissen zu lassen, wer sie wirklich ist. Wenigstens soweit sie selbst eine Ahnung davon hat. Sie hat sogar erwogen, das dunkelste aller Geheimnisse zu verraten, das unter den Lebenden nie erwähnt wird. Die Toten hingegen sprechen zu ihr kaum noch von etwas anderem. Sie ist es leid, so leid.

Mit der Dämmerung kommt Wind auf, treibt weitere Wolken vom Meer gegen den Hausberg, rüttelt an der blauen Wellblechverkleidung des Holzhauses, saust durch undichte Stellen im Dachstuhl. Das Heulen klingt für sie mal wie eine Anklage, mal wie Hohngelächter.

Lange nach Sonnenuntergang schlägt die Haustür auf und zu, danach die Stubentür, und der Enkel betritt den Raum. »Alle schon weg? Ist noch was übrig?«

Er sieht den Tisch, das strahlend saubere Leinentuch, das unbenutzte Geschirr, und sein Gesicht wird starr vor Empörung. »Diese verfluchte Familie... diese Bande von ...«

Sie unterbricht ihn. »Sag nichts. Es ist meine Schuld.«

»Red keinen Unsinn. Die wissen einfach nicht, was sich gehört. Keine Ahnung, warum das so ist.«

»Weil es ihnen keiner beigebracht hat? Weil sie eine schwierige Frau zur Mutter und Großmutter haben?«

»Amma mín, lass das. Hör auf, dich fertigzumachen, bitte. Du hast keinen Grund dazu. Die anderen sollten sich schämen. Komm, wir wollen essen ... Ich sterbe vor Hunger.«

Er setzt sich hin, Fritzi trägt auf. Beim Anblick der Speisen, vom langen Warmhalten unansehnlich, zerkocht und in sich zusammengefallen, packt sie die Wut, und sie fegt mit der flachen Hand ein Gedeck vom Tisch: den Teller, Messer, Gabel, Löffel, das Wasser und das Weinglas, das auf den harten Holzbohlen zerspringt. Der Enkel schaut zu, steht vom Stuhl auf und macht es ihr nach, ohne ein Wort darüber zu verlieren.Also fährt sie ebenfalls fort mit dem Ungeheuerlichen, als wäre es das Normalste der Welt, sich auf diese Weise von überflüssig gewordenem Hausrat zu befreien. Es klirrt und poltert wunderbar, als immer mehr zu Bruch geht, dazu das Gejauchze des Windes. Das Meer applaudiert.

Sie lassen nichts stehen außer den beiden Gedecken an der Stirnseite der Tafel. Schließlich wollen sie davon ja noch essen.

»Heute machen wir reinen Tisch«, sagt sie in ihrer Muttersprache und kichert wie ein Mädchen.

Der Enkel nickt. »Ich werde uns mal die Kerze anzünden.« Sein Deutsch ist nahezu akzentfrei. Er hat in Köln studiert.

Dinner im Kerzenschein, vor den Fenstern jetzt stockfinstere Nacht. Es schmeckt nicht besonders,wie sollte es auch. Die Stimmung ist heiter, viel zu heiter, um das dunkelste der Geheimnisse zu lüften, sie gibt den Plan auf. Sicher ist Feigheit im Spiel, aber nicht nur: Er ist ein guter Erzähler, könnte sich glatt mit seinem Großvater Jön messen. Im Beruf und mit seinen Freunden erlebt er lustige Dinge. Sie will lieber nur zuhören und mit dem Wind lachen, als selbst zu reden. Fritzi hat ein lautes Lachen. Sie weiß, dass er es gern hört.

Er gibt sich die größte Mühe, die fehlenden Esser zu ersetzen, schafft beinahe zwei Forellen, das Fleisch der Papageientaucher und bergeweise süßes Kartoffelpüree. Hinterher trinken sie jeder zwei Brennivín, isländischen Schnaps, was die Heiterkeit weiter ankurbelt, sie werden geradezu ausgelassen.

Fritzi hat auch lustige Geschichten parat. Zum Beispiel die von ihrer Ankunft in Island im Juni 1949. Es ist zwölf Grad kalt, als die Esja in der Bucht von Reykjavík vor Anker geht und ein Regensturm der Stärke neun über dem Wasser tobt. Dann beruhigt sich das Wetter wie durch Zauberei, und das Meer ist plötzlich glatt wie ein Spiegel, der Himmel klar. Glutrot versinkt die Sonne hinter einem Gletscher im Westen. Von Dunkelheit keine Spur. Sie beschreibt dem Enkel detailliert die Silhouette der Tafelberge, die mit ihren weiten Gipfelebenen in ein mildes, sonderbares Licht getaucht sind. Er lauscht geduldig.

An Bord des Dampfschiffes befinden sich 184 junge Leute aus Deutschland, hauptsächlich Frauen. Ihre Einreise, das haben die Seeleute erzählt, hat bereits für Diskussionen gesorgt: Darf man die Folgen der grassierenden Landflucht, die vor allem die weibliche Bevölkerung erfasst hat, ausgerechnet mit dem Anwerben jugendlicher Fräuleins aus dem besiegten Nazireich kurieren?

Obschon für die Landarbeit auf entlegenen Höfen bestimmt, erregen sie Aufsehen in der Inselhauptstadt. Kaum einen Tag liegt das Schiff auf Reede, da nähern sich vom Hafen her Boote, eine ganze Armada weiß-grün getünchter Ruderboote aus Holz, einige Jollen, ein roter Fischkutter, sämtlich vollbesetzt mit Männern, die pfeifen und rufen und winken. Die Frauen stehen an der Reling und rufen und winken zurück, ohne zu pfeifen, anfänglich verhalten, dann immer kecker, erst recht, als sie erkennen, was für Mannsbilder ihnen da einen so fröhlichen Empfang bereiten: hübsche Kerle im besten heiratsfähigen Alter, die meisten bärtig, viele blond, alle gut genährt und kernig in ihrer Art. Solche Männer hat Fritzi unter Deutschen lange nicht gesehen, zuletzt in den Anfängen des Krieges, begeisterte Soldaten auf dem Weg in die nächste Schlacht. Die Szenerie in der Bucht von Reykjavík hat Ähnlichkeit mit diesen Jubelfeiern, bloß mit vertauschten Rollen.

An Bord kommen können die Herren nicht – Quarantäne. Dafür regnet es Geschenke: Bonbons, amerikanische Schokolade, Pfefferminzkaugummis und Fische. Die werfen tatsächlich mit Trockenfisch, diese Isländer, und sie sehen dabei nicht aus, als sei es böse gemeint. Fritzi weiß inzwischen, dass es sich bei dem getrockneten Kabeljau um eine Art Nationalgericht handelt. Sie hält sich abseits des Getümmels. Ihre Portion Süßigkeiten erhält sie dennoch. Eine Jolle, besetzt mit drei Burschen, kreuzt immer in ihrer Nähe, ein bärtiger Hüne, rothaarig wie sie, hat sie auserkoren. Amüsiert betrachtet sie von ihrer erhabenen Position aus, wie er mit den Armen rudert, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Das kleine Boot schaukelt. Seine Freunde johlen.

»Ragnar«, ruft er ihr zu, legt die Rechte flach auf sein Herz, wiederholt: »Ragnar«, und deutet mit hochgezogenen Brauen auf sie.

Sie blickt in seine unbekümmerte Miene.

»Hva ð heitir þú ? «, fragt er. »What's your name?«

Es fällt ihr nicht leicht, den Namen auszusprechen. Doch hat sie eine Wahl? Sie denkt an die Mauer, die sie zwischen sich und ihrer Vergangenheit errichten will. »Hartmann, Fritzi.«

Ragnar legt den Kopf schief. »Hartmann?« Ein breites Grinsen. »Hartmann?«

Bei ihm klingt es zu komisch. Sie lacht ihr lautes Lachen. Es überrascht den Mann im Boot, das ist unverkennbar, aber er stimmt sofort mit ein, ebenso seine Freunde. Darauf verbeugt er sich leicht und vollführt eine ausladende Geste hin zu den Bergen, als würde er ihr alles schenken, die steilen Hänge, den Silberhimmel, das spiegelglatte Meer.

»Velkomin, Hartmann«, sagt er.

Wenig später drehen sie bei. Fritzi schaut ihnen nach. Auf dem Fischkutter spielt jemand Gitarre, ein anderer singt dazu. Eine eingängige Melodie, die sie, solange sie lebt, nie mehr vergessen wird, da ist sie ganz sicher. Leise summt sie mit. Sie liebt Musik.

»Welches Lied war es?«, fragt der Enkel.

Sie fängt an, es zu singen, kennt die Verse längst im Schlaf. Er setzt sich ans Klavier, begleitet ihren hellen Gesang, und sofort ist sie wieder das junge Ding auf der Esja und zugleich die alte Närrin auf Bjarg. Es ist genau so, wie Bjarney sagt, alles geschieht gleichzeitig. Und solange sie singt, ist sie in Sicherheit. Vor den anderen und vor sich selbst.

»Hast du diesen Ragnar jemals wiedergesehen?«

»Nein.« Sie erzählt dem Enkel nicht, dass sie drei Tage später unter den Schaulustigen am Pier vergebens Ragnars Gesicht suchte.Auch nicht, wie oft sie sich, bevor sie an Land durften, beim Bonbonlutschen vorgestellt hat, sie könne mit ihm auf seiner Jolle fortsegeln, denn sie hatte Gefallen am Reisen gefunden und,zugegeben, auch an ihm.Als erstes Ziel hätte sie den Gletscher im Westen gewählt, dessen Gipfel schneebedeckt in der Sonne glitzerte.

Das Wetter nach dem ersten Guss war überhaupt ein Fest, tagelang sonnig, Reykjavík mit seinen bunten Holzhäusern ein Schmuckkästchen. Regen fiel erst wieder während der Fahrt aufs Land. Eimer weise.

»Vielleicht hättest du besser einen Seemann geheiratet und keinen Bauern«, sagt der Enkel, als sei er ihren Gedanken gefolgt.

Fritzi lächelt müde. »Ach was, das hätte doch für mich nichts geändert. Die Frau bleibt daheim und zieht die Kinder groß, sofern sie nicht früh sterben, melkt die Kühe und hält das Haus in Ordnung.«

»Gott sei Dank haben sich die Zeiten geändert.«

»Haben sie das?«

Er bleibt die Antwort schuldig.

Zum Abschluss des Abends trinken sie noch einen Brennivín. Ein Absacker für eine gelungene Party, wie er sagt. Bevor er geht, besteht er darauf, die Scherben am Boden ohne ihre Hilfe zusammenzukehren. Sie lässt es geschehen. Wirklich ein guter Junge. Der Beste. Es bricht ihr das Herz, zu wissen, wie gefährdet er ist. Sie hat ihn gesehen, wie er sein wird, schon sehr bald, sie spürt, ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit, bis sein Schicksal sich vollzieht. Was beweist, dass es mit ihrer Bitte an ihn zu tun hat, ist doch sein Flug nach Deutschland für die übernächste Woche gebucht.

Noch einmal versucht sie, ihm die Sache auszureden.

Er ist unerbittlich. »Amma, die Würfel sind gefallen.«

So ist es wohl. Sie waren es bereits, bevor er zur Welt kam.

»Wir lassen uns scheiden.« Tönges Engel macht ein Gesicht, das jede Nachfrage von vornherein ausschließt.

Schweigen.

Die Kinder wollen ein Eis. Sie fordern und fordern, den Befehlston gewöhnt, werden aber ausnahmsweise von ihrem Vater zur Ruhe gerufen, was die Sprachlosigkeit der Erwachsenen erst recht zur Geltung bringt.

»Das ist nicht euer Ernst, Oma «, sagt Tessa schließlich.

Henny fängt an zu weinen, worauf Tante Edith an ihre Seite eilt und sie in den Arm nimmt.An den Tischen ringsum wird es leiser. Verstohlene Neugier.

Liv winkt die Bedienung heran, ordert eine Flasche Köm und zwölf Gläser. Die Blondine erfasst den Notfall und bringt das Gewünschte umgehend, beinahe im Laufschritt. Florian sieht aus, als müsse er sich zügeln, nicht aufzuspringen und Szenenapplaus zu spenden.

Sie trinken.Nach dem zweiten Schnaps läuft Utz Engel, Livs Vater, rot an und fängt unvermitteltan zu pöbeln. »Was für ein Mistkerl«, gemeint ist Tönges. »Das hätte ich mir denken können, es passt zu dir, dass du Mama im Alter sitzen lässt. Genau so ein Mensch bist du. Immer gewesen. Egoistisch, rücksichtslos und hinterhältig. Du hast bestimmt eine Neue. Gib's zu, du hast eine Neue. Wie alt ist sie? Vierzig? Dreißig? Zwanzig?«

»Lächerlich.« Tönges mustert seinen Sohn voller Abscheu. »Reiß dich am Riemen, du Klapskalli.«

Utz Engel springt auf. »Das könnte dir so passen.Aber mir reicht's. Ich hab die Nase voll. Von dir lasse ich mir nicht mehr den Mund verbieten. Von dir nicht.«

Je mehr sich Livs Vater im Tonfall vergreift, desto mehr Leute hören ihnen zu, und es ist zu spüren, wie sie sich auf die Seite ihres Großvaters schlagen, dem die Zähigkeit ebenso wenig anzusehen ist wie dem Jüngeren seine Schwäche.Ablehnung von allen Seiten, wie eine Wand. Utz Engel registriert das nicht – oder es ist ihm gleich. Er will offenbar, dass die ganze Welt hört, wie er über Tönges urteilt, auch wenn er damit wieder einmal nur das erreicht, was ihn bereits sein Leben lang quält: dass ihn niemand leiden kann.

»Du warst nie für Mama da und für uns auch nicht. Ist doch so, Edith? Ich sage nur, wie es ist. Einen Dreck hat er sich für uns interessiert. Stimmt doch, Edith?«

Seine Schwester hütet sich zu antworten. Mechanisch streichelt sie ihrer Mutter über den Rücken, obwohl deren Tränen versiegt sind, sie sogar beschwingt ist, ihrem Mienenspiel nach zu schließen, zumindest erleichtert, weil die Geheimniskrämerei ein Ende gefunden hat, wenngleich ein hässliches.

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum du dich so aufregst«, sagt Tönges zu Utz.

Liv geht es genauso. Zwar ist sie überrascht, aber nicht erschüttert, jedenfalls nicht über die anstehende Scheidung. Der Ausbruch ihres Vaters hingegen ist ihr mehr als peinlich.

»Du solltest dich schämen«, setzt Utz Engel nach, nicht mehr ganz so laut, aber ungebrochen aggressiv. »Ich könnte kotzen.«

»Dann tu das doch bitte draußen«, erwidert Liv, und ihre Mutter nickt beifällig: »Sie hat recht, Utz, am besten, du gehst für fünf Minuten an die frische Luft.«

Utz Engel setzt sich wieder hin. »Kommt nicht in Frage. Dieser Dreckskerl von einem Ehemann und Vater soll verschwinden. Am besten für immer. Wir brauchen ihn nicht. Wir haben ihn nie gebraucht. Oder ist hier irgendjemand anderer Meinung?«

Tönges Engel erhebt sich langsam, mühsam beherrscht. Er hält sich kerzengerade, als er die Gaststube verlässt.

»Gehst du ihm nach?«, flüstert Max ihr ins Ohr. Liv bejaht. Sie fragt sich, ob sie von selbst darauf gekommen wäre.

Seine schmale Silhouette auf der Pier, er steht direkt am Hafenbecken und raucht Zigarette, schnippt die Asche ins Wasser. Liv hält etwas Abstand, lässt den Blick schweifen. Sonnenuntergang. Fischkutter im

Abendrot, auf dem Pflaster Tampen und grüne Fangnetze zum Trocknen ausgelegt. Malerisch trotz schmuckloser Getreidesilos im Hintergrund. Liebespaare, wohin man schaut.

»Angenehmer Mensch, dein Max.« Er bietet ihr eine Zigarette an.

Sie raucht nur ungern, greift aber zu. »Finde ich auch.«

Er gibt ihr Feuer. »Die Scheidung wird im gegenseitigen Einvernehmen ablaufen. Ich lasse sie nicht sitzen. Deine Großmutter und ich sind uns vollkommen einig. Wir nehmen uns sogar einen Anwalt zusammen.«

»Kein Grund, sich zu rechtfertigen.«

Sie stehen und rauchen. Der Wind hat nachgelassen, doch es ist kalt geblieben. Tönges, im blauen Oberhemd, scheint das nicht zu stören.

»Ich hätte dich damals nicht zur Heirat drängen sollen, als du schwanger warst«, sagt er.

»Geschenkt. Meine Ehe ist Geschichte. So wie deine demnächst. Kommst du wieder mit rein?«

»Einer muss ja die Zeche zahlen.«

Die kurze Strecke von Burgstaaken nach Westermakelsdorf, wo Livs Kate steht. Stockfinstere Nacht, links und rechts rote Blinklichter: Windanlagen, tagsüber ein Ärgernis, weil sie dem Horizont die Weite nehmen. Max fährt mit offenem Fenster, als wäre schon Sommer. Sie friert, genießt jedoch die Meerluft, Maikens Parfüm noch in der Nase. »Du hattest recht«, sagt er.

Sie antwortet erst nicht, ist in Gedanken beim Haus, alles wird klamm sein, muffig und ungemütlich. Im letzten Herbst hatte sie Mäuse, der Kammerjäger musste kommen. Woraufhin sie sich überwand, einen Schlüssel beim Nachbarn zu deponieren, mit der Bitte, ab und zu nach dem Rechten zu sehen.

»Womit hatte ich recht?«, fragt sie nach minutenlanger Pause.

»Deine Leute sind wirklich ziemlich befremdlich. Und gehässig. Langweilig fand ich sie allerdings nicht.«

Genau ihre Worte. Liv hat sie keineswegs vergessen, trotzdem will sie nicht, dass er abfällig über die Familie redet. Es macht einen Unterschied, ob sie es tut oder er. Was weiß er schon?

»Immerhin sind wir hart im Nehmen.« Max lacht. »Nicht so hart wie im Austeilen.«

Im Haus brennt Licht. Liv sieht es von Ferne und gerät sofort in Rage. Ein merkwürdiger Zeitpunkt für einen Kontrollgang. Zumal der Schornstein raucht, wie sie beim Näherkommen feststellt. Kein Zweifel, jemand hat es sich dort gemütlich gemacht, entweder der Nachbar selbst, oder er besitzt die Frechheit, das Objekt zu vermieten. Den Insulanern traut Liv alles zu. Sie springt aus dem Wagen, kaum dass Max geparkt hat, und stürmt los.

Drinnen wohlige Wärme, der Geruch von Kaminfeuer. Auf dem Sofa sitzt Aaron und liest ein Buch. Verpflegung hat er auch dabei: eine Rolle Kartoffelchips, Schokokekse und eine Flasche Cola. Bis auf das Knistern der Flammen ist es still. Ein schönes Feuer, das gleichmäßig brennt, wie gemalt.

»Hallo«, sagt er, um Lässigkeit bemüht. »Ich warte schon seit Stunden. Bin mit dem Mittagszug gekommen. Gut, dass der Typ nebenan einen Schlüssel hatte.«

Wie er sie ansieht: ängstlich beinahe, dazu sein Versuch, Souveränität auszustrahlen. Liv kann nicht anders, sie ist gerührt. Er besitzt ein Gespür für Selbstinszenierung, der Junge. Erst taucht er nachts an ihrem Auto auf, jetzt sein Besuch auf der Insel, weniger überraschend, auch wenn sie nicht fest mit ihm gerechnet hat. Sie hat bloß, wie immer zu Ostern, eine Karte an ihn geschrieben, einen Hundert-Euro-Schein hineingelegt und nebenbei ihre Pläne erwähnt, die Feiertage auf Fehmarn zu verbringen. Damit er in Lübeck gegebenenfalls nicht vor verschlossener Tür stünde. Es sollte nicht aussehen, als ob sie ihr Versprechen vergessen hätte.

»Da bist du also«, sagt sie. Es klingt lahm. Dem Gefühl nach hätte sie genauso gut sagen können: Schön, dass du da bist.Aber sie ist zu verwirrt über dieses Empfinden, um es in Worte zu fassen. Max kommt herein und stolpert über eine riesige Reisetasche auf dem Boden. Sie ist prall gefüllt.

Aaron hat sie beim Wort genommen.